Die Melodie von rotem Ahorn
Neubuch
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Beschreibung
Prolog Lisa Eine tiefe Schwermut überkommt mich. Ganz plötzlich und ohne Vorwarnung. Ich bin überwältigt von den Lichtern, den Lampen, der Atmosphäre. Aber jetzt, hier am Ufer des schmalen Flusses, umringt von Menschen, die in andächtiger Stille und Demut im Dunkel der Nacht ihre kleinen Laternen zu Wasser lassen, überfällt mich der unbändige Wunsch nach Nähe. Nähe zu einem Menschen, den ich lieben kann. Meine Augen füllen sich unerwartet mit Tränen und wie durch einen Schleier nehme ich die Umgebung war. Blaue, grüne, gelbe und rote Punkte verschwimmen zu einem bunten Fleck und ich schließe die Augen. Vielleicht ist es die allgemeine Stimmung um mich herum, die dazu geführt hat, dass ich in dieser warmen Augustnacht an einem Fluss in Kyoto sitze und weine wie ein kleines Kind, während ich den Leuten zusehe, wie sie den Toten gedenken, indem sie den Geistern mit schwimmenden Laternen aus Papier den Weg zurück in ihr Reich weisen. Dieser Abend sollte so schön werden. Zumindest in meiner Vorstellung. Unbedingt wollte ich dabei sein, wenn am dritten Tag des Obon-Festes die Zeremonie beginnt. Ein Teil des Ganzen sein, von dem ich in Deutschland schon so viel gehört und gelesen habe. Wenn die Leuchtfeuer auf den Bergen rings um Kyoto entzündet werden und die ganze Stadt im Kerzenlicht erstrahlt. Ich bin erst seit zwei Wochen in Japan und wollte schon zu Beginn meines Aufenthaltes so viel wie möglich über die Gebräuche und die Kultur des Landes erfahren. Ich hatte die Vermieterin meines winzigen Appartements in Nagoya gebeten, mich zum Fest mitzunehmen und konnte den Abend kaum erwarten. Das ObonFest ist in ganz Japan ein traditionelles Familienfest, hatte sie mir auf gebrochenem Englisch erklärt. Zwar habe ich ein Jahr lang den Grundkurs Japanisch auf meiner Uni in Freiburg besucht, aber für Gespräche wie diese reichen meine Sprachkenntnisse dann doch nicht aus. Hier kommt man zusammen und gedenkt der Toten und Verstorbenen, aber manchmal auch den Menschen, die weit entfernt von der Heimat an einem anderen Ort verweilen und nicht zu Hause sein können, sagte sie. So erhofft man sich, dass die Verstorbenen für die Zeit des Festes aus dem Reich der Geister zurück nach Hause kommen und dem Familienfest für drei Tage beiwohnen. Man besucht die Grabstätte der Verstorbenen und versucht, ihnen so nah wie möglich zu sein. Überall werden Laternen an die Haustüren gehängt, um den Toten den Weg zu erleichtern. Ich finde die Vorstellung befremdlich, Geister darum zu bitten, nach Hause zu kommen, aber die Japaner sehen dies als die Zusammenkunft ihrer Liebsten. Meistens sind es die eigenen Eltern, der Ehepartner, der zu früh verstorben ist, beste Freunde, oder auch das eigene Kind. Es wird den Menschen gedacht, die einem am nächsten standen. Und je länger ich darüber nachdenke, desto besser verstehe ich es. Das Gefühl zu haben, von jemanden geliebt zu werden. Ist es nicht das, worum es im Leben geht? Geliebt und gebraucht zu werden? Und was ist, wenn die Liebe des Lebens plötzlich nicht mehr da ist? Dort nur eine große Leere geblieben ist? Würde man nicht alles dafür tun, um dem Menschen noch einmal ganz nah zu sein? Ihm alles sagen zu können, was einem auf dem Herzen liegt? Das Gefühl zu haben, nicht alleine zu sein? Für drei Tage? Das ist Obon. Und das hat nichts mit bösen Geistern zu tun, die einen mit lautem Gepolter nachts aus dem Schlaf reißen. Es ist eine Zusammenkunft all der Hoffnung und der Liebe, die einem im Laufe des Lebens genommen wurde. Es ist ein Wiedersehen mit den wichtigsten Personen, aber am Ende des Festes auch ein Abschied für ein weiteres Jahr. Und so sitze ich hier und es fühlt sich alles so anders an. Dabei kann ich gar nicht genau sagen, was mich bewegt. All die Menschen um mich herum denken an eine geliebte Person. Aber wen habe ich eigentlich? An wen denke ich? Und wer denkt an mich? Da ist niemand. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so allein gefühlt. Meine Tränen tropfen auf die Papierlaterne in meiner Hand und ich zerknittere sie beinah, so fest halte ich sie.
Verlag:
ISBN:
9783985958870
3985958874
Erscheinungsdatum:
09.10.2023
Bindung:
Hardcover, Kartoniert
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