Feindbild Fremde
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Details zum Buch
Beschreibung
Einleitung 'Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte. [] Es gab keine Permits, keine Visen, keine Belästigungen; dieselben Grenzen, die heute von Zollbeamten, Polizei, Gendarmerieposten dank des pathologischen Mißtrauens aller gegen alle in einen Drahtverhau verwandelt sind, bedeuteten nichts als symbolische Linien []. Erst nach dem Kriege begann die Weltverstörung durch den Nationalismus, und als erstes sichtbares Phänomen zeitigte diese geistige Epidemie unseres Jahrhunderts die Xenophobie: den Fremdenhaß oder zumindest die Fremdenangst.' Diese Worte wählte der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig in seiner Autobiographie Die Welt von Gestern, die er kurz vor seinem Freitod 1942 im Exil in Brasilien vollendete. Zweig rief wehmütig eine Zeit scheinbar grenzenloser Mobilität und Harmonie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Erinnerung. Angesichts des Aufkommens von krankhafter Xenophobie und der 'Erzpest' des Nationalismus schien er nun seine kosmopolitischen Vorstellungen begraben zu haben. Er erkannte, dass die Angst vor Fremden vielerorts ein beunruhigendes Ausmaß angenommen hatte. Barrieren und Exklusionsmaßnahmen gegenüber unwillkommenen Ausländern stellten spätestens in den 1930er- und 1940er-Jahren eher die Regel als die Ausnahme dar. Xenophobie war jedoch kein selbstverständliches Resultat des Ersten Weltkrieges. Ihre Entstehung muss erklärt werden. Woher kamen das Misstrauen und der Hass? Wer schürte die Ressentiments? Die Angst vor Fremden entsteht nicht im luftleeren Raum. Die Vermittlung von Xenophobie, so wird dieses Buch zeigen, ist an das Handeln von Akteuren, Kommunikationsmedien sowie an konkrete Kontexte gebunden. Nicht ohne Grund stellte der Chronist Domingos Ribeiro Filho 1927 in der in Rio de Janeiro veröffentlichten Zeitschrift A Careta verschiedene Formen der Fremdenangst heraus. Er ging auf die 'offizielle', 'akademische' und auch die 'journalistische' Xenophobie in Brasilien ein. Dass Medien heute mit Ängsten spielen und diese gezielt schüren, ist hinlänglich bekannt, wie die Debatten um Migration und Asyl veranschaulichen. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine Entwicklung, die ausschließlich in der Gegenwart zu beobachten oder lediglich auf die neuen Medien zurückzuführen ist. Sie hat vielmehr eine lange Geschichte, die vonseiten der Wissenschaft gerade in Regionen außerhalb Europas und Nordamerikas bislang nur wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Brasilien stieg dank liberaler Gesetze um die vorletzte Jahrhundertwende zu einem der am stärksten durch Einwanderung geprägten Länder des amerikanischen Doppelkontinents auf. Zwischen 1881 und 1915 hieß das Land ungefähr drei Millionen Immigranten aus aller Welt willkommen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieg auch die Einwohnerzahl rasant. Lebten um die Jahrhundertwende erst gut 17 Millionen Menschen in Brasilien, waren es 1920 bereits über 30 Millionen. Das Land nahm vor Armut, Unruhen und Unterdrückung fliehende Personen auf und lockte Arbeitskräfte aus Europa, Asien und dem Nahen Osten an. Zusammen mit der indigenen und der afrobrasilianischen Bevölkerung bildeten all diese Menschen eine multiethnische Gesellschaft, die insbesondere im Ausland als vermeintliche Rassendemokratie präsentiert werden sollte. Um sowohl Zweigs als auch Ribeiro Filhos Feststellungen verstehen zu können, müssen die Entstehung und die Verbreitung von Xenophobie untersucht werden. Das Brasilien des frühen 20. Jahrhunderts erweist sich als anschauliches Beispiel dafür, wie Wahrnehmungen von Mobilität, Diversität und einer enger zusammenwachsenden Welt mit der vor allem durch die Presse propagierten Xenophobie und mit Abschottung einhergingen. Abstrahiert geht es im Folgenden um das Problem der Hintergründe und der treibenden Kräfte, die die Vermittlung von Ängsten ermöglichen. An dieser Stelle sollen zunächst drei zentrale Elemente des Forschungsrahmens skizziert werden. Relevant sind in einem ersten Schritt die wissenschaftlichen Ansätze zur Erklärung von Xenophobie. Im Anschluss daran wird der brasilianische Fall mit seinen Besonderheiten vorgestellt. Das Augenmerk liegt zum einen auf den zeitgenössischen Wahrnehmungen der Integration in den Weltkontext und zum anderen auf der Rolle der Öffentlichkeit, die während des Untersuchungszeitraums einem Wandel unterlag. Das 20. Jahrhundert kann als das Jahrhundert der Angst gelten. Diese Einschätzung prägten unter anderem Philosophen, Staatsrechtler und Schriftsteller wie Albert Camus, Carl Schmitt, Oswald Spengler oder Martin Heidegger. Die von ihnen beschriebenen Untergangsszenarien trugen maßgeblich zur Rede von einer Weltangst in den Jahren zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg bei. Spengler zufolge handelte es sich um eine unbestimmte 'Angst vor den fremden Mächten'. Der Germanist Andreas Käuser konkretisiert die zeitgenössischen Einschätzungen und führt die überwiegend rassistisch motivierte Angst vor Fremden als eines der wesentlichen Merkmale des vergangenen Jahrhunderts an. In den zurückliegenden Dekaden sind in verschiedenen Disziplinen Studien erschienen, die versuchen, die Entwicklung dieser Angst bis in die Gegenwart zu erläutern. Aufgrund der Aktualität der Thematik widmen sich vor allem Soziologen und Psychologen den Einstellungen gegenüber Personen aus dem Ausland. Fremdenfeindlichkeit soll durch Umfragen und Experimente auf einer intrapersonalen, interpersonalen oder intergruppalen Ebene nachgewiesen werden. Die Geschichtswissenschaft hingegen hat sich diesem Forschungsgegenstand bislang selten gewidmet. Dies ist erstaunlich angesichts der Aussage des Sozialwissenschaftlers Michael Ley, der die Angst vor Fremden als 'transhistorisches und ubiquitäres Phänomen' bezeichnet. Den Eindruck einer überall verbreiteten Erscheinung vermittelt auch der Historiker Alexander Demandt. In seinem kultur-geschichtlich ausgerichteten Sammelband vereint er Beiträge aus verschiedenen Regionen und Epochen. Die Angst vor Fremden liegt der naturwissenschaftlich orientierten Anthropologie entsprechend in der Tat unter allen Menschen bereits im Kindesalter vor. Ein grundlegendes Misstrauen gegenüber Unbekannten fungiert Lars Koch zufolge als 'Schutzmechanismus'. Durch den Kontakt mit der Neuen Welt, so lautet eine mögliche Interpretation, habe die Xenophobie ein neues Ausmaß erreicht. Der Wissenschaftstheoretiker Erhard Oeser misst der Zivilisierungsmission der Europäer gegenüber den vermeintlich Wilden Bedeutung bei. Eine ähnliche Andeutung macht der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt, dem zufolge die Entdeckung außereuropäischer Kulturen die 'Erfindung des Fremden' geprägt habe. Diese Feststellungen sollten jedoch nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen führen, denn weder waren es allein Europäer, die in den vergangenen Jahrhunderten Angst vor den Menschen von anderen Kontinenten verspürten, noch sind die Fremden ausschließlich in der Neuen Welt zu suchen. Xenophobie ist zunächst als eine besondere Form von Angst zu betrachten. In dieser Studie stehen allerdings keine psychologischen, neurobiologischen oder kognitionswissenschaftlichen Ansätze im Vordergrund, sondern eine historische Perspektive, die ihr Augenmerk auf die Einbettung von Angst in soziale und kulturelle Umgebungen legt. Angst deutet im Allgemeinen auf die Perzeption von realen oder vorgestellten Gefahren hin und kann zum Handeln motivieren. Sie speist sich aus der Selbst- und Weltwahrnehmung sowie aus dem Verhältnis von vorangegangenen Erfahrungen und in die Zukunft gerichteten Erwartungen. Angst ist - im Gegensatz zur eher konkreten und objektbezogenen Furcht - meist diffus. In Ausnahmesituationen kann sie in Panik ausarten. Dabei muss stets berücksichtigt werden, ob es sich um die Angst um etwas oder vor etwas handelt. Das griechische Wort xenós beschreibt einen Fremden, der Anlass zur Sorge gibt. Erfassen lässt sich dieser nur schwer, zumal ein direkter Austausch mit dem Fremden nicht grund...
Zustand
Ungelesenes Mängelexemplar mit kleineren Beschädigungen durch Lagerung und Transport; inhaltlich unversehrt! Mit Mängelstempel auf unterem Buchschnitt gekennzeichnet.
Verlag:
ISBN:
9783593512006
3593512009
Erscheinungsdatum:
08.04.2020
Bindung:
Softcover, Paperback